Wohnorte der Kandidat:innen der vergangenen drei österreichischen Nationalratswahlen (2017, 2019 und 2024)

Social Meaning in Data Blog

Geographie ist politisch: Menschen, die in sogenannten „abgehängten“ Regionen leben, haben oft geringere Bildungs- und Aufstiegschancen. Sie haben oft weniger Vertrauen in Staat und Institutionen als Personen, die in ökonomisch aufstrebenden Regionen oder Städten zu Hause sind. Bei der Nationalratswahl 2024 hat die FPÖ in ländlichen Gebieten die größten Zugewinne gemacht.

Wenn das räumliche Umfeld die politische Subjektivität prägt, dann ist es interessant, zu fragen: Wo wohnen Politiker:innen? Wo sind diejenigen zu Hause, die meinen, die Interessen anderer vertreten zu können? Wie sieht die Phänomenologie ihres Alltags aus? Was begegnet ihnen auf dem Weg zum Bäcker für eine soziale Welt und durch welche Art von ökonomischem oder demographischem Wandel ist diese charakterisiert (sofern sie mal zu Hause und nicht im Hotel in der Hauptstadt oder auf Geschäftsreise sind…)? Wo Politiker:innen lokal verankert sind, prägt vermutlich, wessen Anliegen und Interessen sie als besonders dringlich und legitim wahrnehmen.

Laut einer schwedischen Studie leben Politiker:innen tendenziell in sozioökonomisch priviligierten Nachbarschaften, also Gegenden, wo Personen mit höheren Bildungsabschlüssen und höherem Einkommen zu Hause sind, und sie leben vermehrt dort, wo ihre eigene Partei besser als andere bei Wahlen abschneidet.

Für Österreich ist nicht viel über ihre lokale Verwurzelung bekannt. Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, bietet es sich an, die Kandidat:innenlisten der Nationalratswahlen anzusehen. Diese enthalten neben Angaben zu Beruf und Alter auch die Wohnorte der Kandidat:innen. Da die Listen öffentlich zugänglich sind, lässt sich untersuchen, welche Orte die Kandidat:innen der wahlwerbenden Parteien als ihre Heimat angeben. Diese Listen umfassen alle Personen, die sich für ein Mandat im Nationalrat bewerben – also weit mehr, als letztlich tatsächlich gewählt werden. Gerade diese Breite bietet jedoch spannende Einblicke, welche Orte die Menschen, die sich vorstellen können, die Bevölkerung auf der Bundesebene zu vertreten – also im Parlament an der Wiener Ringstrasse –, ihr eigenes Zuhause nennen.

Hier wurden die Daten von 2017, 2019, und 2024 zusammengefasst, um ein breiteres Panorama zu erhalten. Ausgangspunkt sind zunächst 11356 Namen. Viele dieser Namen tauchen mehrfach in den Listen auf. Nach der Bereinigung von Duplikaten innerhalb derselben Wahl ud der Fokussierung auf sechs Parteien verbleiben 10177 einzigartige Namen. Die meisten stammen von der SPÖ, der ÖVP, der FPÖ und den Grünen; von der KPÖ und den NEOS sind es deutlich weniger.

Die Karte unten zeigt lokale Cluster von Kandidaturen. Weil hier drei Wahlen zusammengefasst sind, wird dieselbe Person, wenn sie in allen drei Jahren kandidiert hat, dreimal gezählt. Die Anzahl bezieht sich also nicht auf Personen, sondern auf Kandidaturen für Nationalratswahlen je Ort. Die betreffenden Personen leben in 1777 Orten in Österreich.

Mit Klick auf die Karte lässt sich die Grafik interaktiv anzeigen, mit dem Cursor können dort die einzelnen Orte identifiziert werden.

Es gibt eine deutliche Tendenz hin zu den großen Städten als Wohnort. Dort leben mit Abstand die meisten der Kandidat:innen. Auf der Karte ist die Anzahl in den großen Städten viel kleiner dargestellt, sonst würden sie visuell dominieren. Im Großen und Ganzen verteilen sich die Wohnorte auch auf viele kleine Gemeinden und Städte.

Interessant und übersichtlicher ist es, sich jeweils zwei Parteien in der Gegenüberstellung anzuschauen. Darin sind dann regionale Cluster erkennbar – beispielsweise von Kandidat:innen zu Nationalratswahlen der FPÖ in Niederösterreich, im Burgenland, oder in Kärnten. Grüne Kandidat:innen wohnen auch gern in der Steiermark. Hier die Links zu der jeweils interaktiven Version der einzelnen Grafiken unten (NEOS und KPÖ werden nicht angezeigt, KPÖ-Kandidat:innen wohnen – vielleicht wenig überraschend – hauptsächlich in Städten):
Gegenüberstellung FPÖ und GRÜNE
Gegenüberstellung FPÖ und SPÖ
Gegenüberstellung ÖVP und SPÖ
Gegenüberstellung FPÖ und ÖVP

Wie sieht es mit der Verteilung zwischen Stadt und Land zwischen diesen Parteien aus? Als große Städte werden hier der Einfachheit halber die zehn bevölkerungsreichsten Städte Österreichs gezählt: Wien, Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck, Klagenfurt, Villach, Wels, St. Pölten, Dornbirn. „Außerhalb“ heißt im folgenden also, nicht in diesen Orten zu leben:

Tatsächlich zeigen FPÖ-Kandidat:innen der drei Nationalratswahlen eine deutliche Tendenz, außerhalb der großen Städte zu wohnen – mehr als die Kandidat:innen anderer Parteien. Die Grünen schneiden in Bezug auf regionale, nicht-urbane Verwurzelung gar nicht so schlecht ab, wie man vielleicht annehmen möchte.

Man kann sich auch einzelne Orte näher ansehen, wo Kandidat:innen bestimmter Parteien besonders vertreten sind. Im folgenden eine kleine Übersicht der Orte, mit den meisten freiheitlichen Kandidat:innen, mit einer hohen „Exklusivität“ an diesem Ort. Die Prozentzahl hier bezieht sich auf einen besonders hohen Anteil an Personen dieser Partei, die für eine Nationalratswahl kandidiert haben und in diesem Ort leben. Das sind in einem gewissen Sinn also „strongholds“ – nicht von Wähler:innen, sondern von Politiker:innen einer Partei, die diese Orte ihr Zuhause nennen. Hier könnte man ethnographisch ansetzen – wie Katherine Cramer in The Politics of Resentment oder Arlie Hochschild in Strangers in their Own Land – und den substanziellen Fragen nachspüren: Welche soziale Welt ist, es die Politiker:innen vor Augen haben, wessen Anliegen und Interessen meinen sie in Wien zu repräsentieren?

Um die regionalen Cluster noch genauer unter die Lupe nehmen zu können, wäre es interessant, sich auch die Wohnorte der Kandidat:innen für Landtagswahlen anzusehen und mit denen zu Nationalratswahlen zu vergleichen. Für die Landtagswahlen sind die Wohnorte allerdings, soweit ich es beurteilen kann, nicht in den amtlichen Listen dokumentiert. Eine interessante Frage ist auch, wo die Kandidat:innen zu Hause sind, die am Ende ins Amt gewählt werden, an der Wiener Ringstraße im Parlement sitzen, und dort ihre Sicht auf die Welt einbringen – das ist eine Frage für ein anderes Mal.

Der R Code für diesen Eintrag (und zum Eintrag zu den Berufsbezeichnungen) ist hier zu finden: https://github.com/tillhilmar/Austrian_FederalElections_Candidates